Wenn auch ihr Licht sich in die Runde verteilt hat,
so verlor es doch nichts von der Kraft seines Glanzes.
Exsultet

Neulich saß ich im Gottesdienst und ließ meinen Blick durch die Kirche schweifen. Dabei fiel er auf die Osterkerze, die etwas verloren und nicht angezündet, hinten im Chor neben dem Taufbecken stand – während diverse andere Kerzen ihr Licht erstrahlen ließen. Auch wenn die Osterkerze nicht leuchtete, war sie schon weit abgebrannt und somit sichtbar in Gebrauch gewesen. Ich fing an, mir Gedanken über die Osterkerze zu machen:

Sicherlich, in der letzten Osternacht wurde diese Osterkerze am Feuer entzündet. Nachdem sie in die unbeleuchtete Kirche getragen wurde, verteilten der Diakon und die Messdiener:innen das Licht an die Gemeinde. Dieser Brauch verweist auf Jesus: er ist der Ursprung des Lebens und das Licht, das die Welt erleuchtet. Wie das Licht in der Osternacht, verbreitet sich die Frohe Botschaft von einem Menschen zum anderen.

Wenn der Diakon das Exsultet anstimmt und damit feierlich die Großartigkeit Gottes preist, ist die Osterkerze das zentrale Symbol der Osternachtfeier. Entsprechend prominent ist sie ganz vorne und für alle sichtbar im Kirchenraum platziert. An ihr ist ab diesem Moment, die ganze Osterfestzeit hindurch, kein Vorbeikommen. Erst nach Pfingsten rückt sie in den Hintergrund. Sie findet dann ihren Platz neben dem Taufbecken, wo sie bei allen Taufen brennen wird.

Doch was passiert eigentlich mit der Osterkerze aus dem Vorjahr? Denn damit die aktuelle Osterkerze innerhalb eines Jahres komplett abbrennt, müsste schon eine rekordverdächtige Anzahl von Taufen stattfinden. Und natürlich sieht es auch schöner aus, wenn das ganze Jahr hindurch die Verzierungen (Alpha, Kreuz, Jahreszahl, Omega) zu sehen sind. Also werden doch immer einige Zentimeter von der Kerze übrigbleiben? Die Reste dieser geweihten Kerze werden doch wohl nicht weggeworfen? Unsere Gemeinde möchte doch auch nachhaltig sein!

Nein, weggeworfen wird sie nicht. Da kann ich beruhigen. Sie wird verschenkt und bekommt bei den Beschenkten einen besonderen Platz in ihrem Zuhause.

Die Osterkerze 2020 sah an Ostern 2021, als sie unserer Familie geschenkt wurde, anders aus als ihre Vorgängerinnen. Ihre Geschichte begann nicht in der Feier der Osternacht im Kreis der versammelten Gemeinde. Nein, sie wurde still, fast heimlich entzündet. Die Coronapandemie führte zur Einstellung des öffentlichen Lebens. Gottesdienste und Tauffeiern fanden deutlich weniger statt, so dass sie uns kaum abgebrannt überreicht wurde. Nun könnte man meinen: „Ein trauriges Schicksal für eine Osterkerze.“ Ja, auf den ersten Blick, gewiss. Doch bei genauerem Hinsehen wird etwas anderes deutlich: Unsere Osterkerze steht mitten im Fenster. Alle, die draußen vorbeikommen, können sie leuchten sehen. Wer an unserem Esstisch sitzt, schaut direkt auf das Licht. Das Alpha ist schon weggeschmolzen. Das rote Kreuz und die Jahreszahl kann man noch sehr gut erkennen. Seit fast zwei Jahren brennt sie regelmäßig und ihr Licht verlor doch nichts von der Kraft seines Glanzes.

Das Licht dieser Kerze in unserem Fenster ist für manche Menschen völlig unerwartet aufgeleuchtet. Zufällig, bei einem kurzen Anheben des Kopfes oder bloß aus dem Augenwinkel. Fast unbemerkt wurde so das Licht von Ostern für sie sichtbar. Und doch viel unmittelbarer als es das in unserer Kirche im Frühjahr 2020 konnte und heute noch kann. In den damaligen Tagen des Lockdowns gingen Menschen allein spazieren, getrennt von ihren Freunden und Verwandten. Viele waren verunsichert und erlebten Angst, machten sich Sorgen um ihre Angehörigen. Gemeindegottesdienste fanden in der Kirche nicht statt.

Und auch heute, zwei Jahre nach Beginn der Pandemie, in einer Welt, in der unmittelbar vor unserer Haustür brutal Krieg geführt wird, sind wir verunsichert und erleben Angst.

Die kleine Flamme der alten Osterkerze leuchtet weiter und mag für manche ein Hoffnungssymbol sein, anderen bereitet das Leuchten eine kurze Freude im Vorübergehen. Jeder Mensch, der die Kerze sieht, mag ihrem Licht eine eigene Bedeutung geben. Doch für uns Christen ist die Osterkerze ein Symbol für den Glauben an die Auferstehung.

Sie leuchte, bis der Morgenstern erscheint,
jener wahre Morgenstern, der in Ewigkeit nicht untergeht:
dein Sohn, unser Herr Jesus Christus,
der von den Toten erstand,
der den Menschen erstrahlt im österlichen Licht.
Exsultet

Von Christoph Sülz